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Beurteilung der Mithaftung von Kindern bei einem Verkehrsunfall
Oberhalb dieser Grenze richtet sich die Verantwortlichkeit für schuldhaft verursachte Schäden nach dem Grad der vorhandenen Einsichtsfähigkeit. Die Haftung hängt bis zur Volljährigkeit daher vom jeweiligen erreichten Lebensalter, von der zuteil gewordenen Erziehung zum selbstverantwortlichen Handeln und von der unterschiedlichen individuellen Entwicklung ab.
Aufgrund der mit der Teilnahme am Straßenverkehr bestehenden besonderen Gefährdungslage für Kinder sieht das Gesetz zusätzlich vor, dass Kinder, die zum Zeitpunkt eines Unfallereignisses das 10. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht für Schäden haften, die sie bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug fahrlässig verursacht haben. Erst ab der Vollendung des 10. Lebensjahres sollen Kinder für einen Schaden mit einem Kraftfahrzeug überhaupt haften. Kindern ist es erst mit zunehmendem Alter überhaupt möglich, Situationen im Straßenverkehr richtig einzuschätzen und ihre Handlungen danach auszurichten. Da diese Fähigkeiten mit zunehmender Reife des Kindes wachsen, stellt sich nach Vollendung des 10. Lebensjahres jedoch immer die Frage, wie das Verschulden eines Kindes zu bewerten ist. Ein Verschulden eines Kindes kann daher nicht grundsätzlich mit dem Erreichen des 10. Lebensjahres angenommen werden, sondern muss sich an dem jeweiligen Alter des Kindes bzw. Jugendlichen orientieren.
Mit dieser Frage hatte sich das Oberlandesgericht (OLG) Celle in seinem Urteil vom 19.05.2020 (Az.: 14 U 129/20) auseinanderzusetzen:
Bei der Klägerin handelte es sich um ein zum Unfallzeitpunkt gerade 11 Jahre altes Mädchen, die sich somit noch nahe der von § 828 Abs. 2 BGB gesetzten Altersgrenze (Haftung erst ab Vollendung des 10. Lebensjahres) befand. Das OLG weist in seiner Entscheidung darauf hin, dass neben dem Alter des Kindes auch die konkrete Unfallsituation zu bewerten ist.
Die Klägerin hatte sich in einer Gruppe von Kindern bewegt und das Fahrzeug des Unfallgegners herannahen sehen. Als Fußgängerin wäre sie daher grundsätzlich verpflichtet gewesen, auf den vorfahrtsberechtigten Fahrzeugverkehr zu achten. Zusammen mit drei vorausgehenden Kindern betrat sie dennoch die Fahrbahn, um nicht als einziges Kind zurückzubleiben. Das OLG kam zu der Überzeugung, dass sich das Mädchen in einer Überforderungssituation befunden hatte, in der sie reflexhaft die falsche Entscheidung getroffen hat, den anderen Kindern hinterherzueilen, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Dabei hat sie die Entfernung und Geschwindigkeit des am Unfall beteiligten Fahrzeugs falsch eingeschätzt. Diese Fehleinschätzung führt nach Auffassung des Gerichts bei einem 11-jährigen Kind, das sich einem gruppendynamischen Verhalten ausgesetzt sah, zu keinem Verschulden.
Im Ergebnis hatte das OLG Celle dem Mädchen das geltend gemachte Schmerzensgeld ohne Berücksichtigung einer eigenen Mithaftung voll zugesprochen. Im Gegenzug hatte der Eigentümer des Fahrzeugs seinerseits keinen Anspruch auf Erstattung des am Fahrzeug entstandenen Schadens.
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