Arbeitsrecht
Entgeltgleichheit im Arbeitsrecht: Zwei wegweisende Urteile und ihre Bedeutung für die Praxis
1. Die rechtlichen Grundlagen verstehen
Bevor wir uns den konkreten Fällen widmen, ist es wichtig, die gesetzlichen Regelungen zu verstehen, die das Fundament für Entgeltgleichheit bilden. Drei zentrale Gesetze sind hier relevant:
Das Entgelttransparenzgesetz von 2017 zielt darauf ab, die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern zu schließen. Es verbietet ausdrücklich, Menschen aufgrund ihres Geschlechts für gleiche oder gleichwertige Arbeit unterschiedlich zu entlohnen. Ein wichtiges Werkzeug ist der individuelle Auskunftsanspruch: Beschäftigte in Unternehmen mit mehr als 200 Mitarbeitern können das mittlere Gehalt einer Vergleichsgruppe des anderen Geschlechts erfragen.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbietet Diskriminierung aus verschiedenen Gründen, einschließlich des Geschlechts. Besonders wichtig ist die Beweislastumkehr: Wenn jemand Anzeichen für eine Benachteiligung vorlegen kann, muss der Arbeitgeber beweisen, dass keine Diskriminierung vorlag.
Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz war schon vor diesen Gesetzen etabliert und verbietet willkürliche Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund.
2. Der "Paukenschlag aus Erfurt": Das BAG-Urteil zu gleicher Arbeit
Der erste Fall, der als "Paukenschlag aus Erfurt" bekannt wurde, betraf eine Vertriebsmitarbeiterin, die ein Gehalt von 3.500 Euro akzeptiert hatte. Ein männlicher Kollege, der kurz vor ihr für die exakt gleiche Position eingestellt wurde, hatte das gleiche Angebot abgelehnt und erfolgreich 1.000 Euro mehr ausgehandelt.
Das Bundesarbeitsgericht gab der Klägerin vollumfänglich Recht. Die Richter sprachen ihr nicht nur die Gehaltsdifferenz, sondern auch eine Entschädigung zu. Sie stellten klar, dass bereits der Umstand, dass eine Frau für identische Arbeit weniger verdient als ein männlicher Kollege, eine Vermutung für geschlechtsbedingte Diskriminierung begründet.
Warum dieses Urteil so bedeutsam ist:
Das Gericht wies das häufig vorgebrachte Argument zurück, der männliche Kollege habe einfach "besser verhandelt". Die Richter machten deutlich, dass Verhandlungsgeschick allein keine Rechtfertigung für Gehaltsunterschiede zwischen den Geschlechtern darstellt. Diese Entscheidung stärkt die Position von Arbeitnehmerinnen erheblich, da das Argument des "besseren Verhandelns" bisher oft als Schutzschild für ungleiche Bezahlung diente.
Bereits der Nachweis eines einzigen, besser bezahlten männlichen Kollegen für die gleiche Tätigkeit reicht aus, um die Beweislast umzukehren. Der Arbeitgeber muss dann objektive, nicht-geschlechtsbezogene Gründe für die Ungleichbehandlung nachweisen.
Der Fall war rechtlich relativ eindeutig, da beide Personen unstreitig die identische Tätigkeit ausübten. Dies ermöglichte einen direkten Gehaltsvergleich und machte die Diskriminierung offensichtlich.
3. Das LAG Baden-Württemberg: Komplexere Strukturen im Fokus
Der zweite Fall war deutlich vielschichtiger. Eine Managerin in Teilzeit klagte, weil ihr Gehalt nicht nur unter dem Durchschnitt der männlichen Kollegen lag, sondern sogar unter dem der weiblichen Vergleichsgruppe. Sie forderte eine Anpassung an das Gehalt eines namentlich benannten, weltweit bestbezahlten männlichen Kollegen auf derselben Führungsebene. Alternativ verlangte sie die Differenz zum mittleren Gehalt der männlichen Vergleichsgruppe.
Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg sprach der Klägerin nur teilweise Recht zu. Es gewährte ihr die Differenz zwischen dem mittleren Gehalt der männlichen und dem der weiblichen Vergleichsgruppe. Den Anspruch auf vollständige Anpassung an das Spitzengehalt wies das Gericht jedoch ab.
Die wichtigsten Erkenntnisse dieses Urteils:
Das Gericht sah die Differenz zwischen den mittleren Gehältern der männlichen und weiblichen Vergleichsgruppen als starkes Indiz für strukturelle, geschlechtsbedingte Benachteiligung. Der Median-Wert, also der Wert in der Mitte einer Datenreihe, ist weniger anfällig für statistische Ausreißer als der Durchschnittswert und gibt daher ein realistischeres Bild der Gehaltsstruktur.
Das LAG stellte jedoch klar, dass die Benennung eines einzelnen, außergewöhnlich gut bezahlten Kollegen nicht automatisch einen Anspruch auf dessen Gehaltshöhe begründet. Wenn eine ausreichend große Vergleichsgruppe existiert, deren mittleres Gehalt deutlich unter dem des Spitzenverdieners liegt, kann dies die Vermutungswirkung des Einzelvergleichs abschwächen.
Das Gericht unterschied auch zwischen verschiedenen rechtlichen Anspruchsgrundlagen und machte deutlich, dass der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz auf den Durchschnittswert der begünstigten Gruppe zielt, nicht auf das Gehalt eines einzelnen Spitzenverdieners.
4. Zwei Seiten einer Medaille: Die Urteile im Vergleich
Auf den ersten Blick könnten die beiden Entscheidungen widersprüchlich erscheinen. Das BAG sprach einer Klägerin die volle Anpassung an das Gehalt eines männlichen Kollegen zu, während das LAG Baden-Württemberg eine solche "Anpassung nach ganz oben" ablehnte. Doch bei genauerer Betrachtung ergänzen sich die Urteile und zeichnen ein differenziertes Bild der Rechtslage.
Die Ausgangssituationen unterschieden sich grundlegend: Das BAG behandelte einen direkten Vergleich zwischen zwei Personen mit identischer Tätigkeit - einen klassischen "Paarvergleich". Das LAG befasste sich hingegen mit der komplexeren Situation einer strukturellen Benachteiligung innerhalb einer größeren Gehaltsstruktur mit vielen Vergleichspersonen.
Beide Gerichte nutzten unterschiedliche, aber gleichwertige Indizien: Während das BAG das höhere Gehalt des einzelnen männlichen Kollegen als Beweisanzeichen wertete, fokussierte sich das LAG auf die Differenz zwischen den mittleren Gehältern der Geschlechtergruppen. Das LAG verfeinerte damit den Ansatz für Fälle, in denen statistische Daten für eine größere Gruppe vorliegen.
Die Beweislastumkehr funktioniert in beiden Konstellationen: Beide Gerichte wendeten die Regelung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes konsequent an. Die Hürde für Klägerinnen, eine Vermutung für Diskriminierung zu begründen, wird in beiden Situationen als überwindbar angesehen.
Der entscheidende Unterschied liegt in der Anspruchshöhe: Während das BAG im Einzelvergleich eine volle Anpassung zusprach, begrenzte das LAG den Anspruch bei der Gruppenbetrachtung. Das LAG argumentierte, dass ein Anspruch auf das Gehalt eines statistischen "Ausreißers" nicht automatisch aus einer strukturellen Benachteiligung folgt.
Beide Urteile schränken die Vertragsfreiheit ein: Das BAG stellte explizit klar, dass "besseres Verhandeln" keine Rechtfertigung für geschlechtsbedingte Gehaltsunterschiede darstellt. Das LAG bestätigte dies implizit, indem es die strukturelle Differenz als ausschlaggebend bewertete, nicht individuelle Gehaltsvereinbarungen.
Praktische Auswirkungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber
Diese beiden Urteile haben erhebliche praktische Konsequenzen für beide Seiten des Arbeitsverhältnisses.
Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeuten die Entscheidungen eine deutliche Stärkung ihrer Rechte. Sie zeigen, dass Klagen auf Entgeltgleichheit, die sich auf die Instrumente des Entgelttransparenzgesetzes und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes stützen, durchaus erfolgreich sein können. Wichtig ist dabei die richtige Strategie: Bei einem direkten Vergleich mit einem einzelnen, besser bezahlten Kollegen gleichen Geschlechts kann eine vollständige Anpassung möglich sein. Bei strukturellen Problemen in größeren Gruppen sollte man sich zunächst auf die Differenz der mittleren Gehälter konzentrieren.
Die Urteile machen auch deutlich, dass das oft gehörte Argument, man hätte eben "schlecht verhandelt", rechtlich nicht mehr haltbar ist. Individuelle Verhandlungen dürfen nicht zu geschlechtsbedingter Diskriminierung führen.
Für Arbeitgeber verdeutlichen die Entscheidungen die Notwendigkeit, ihre Vergütungssysteme proaktiv zu überprüfen. Sie sollten ihre Gehaltsstrukturen systematisch auf sachfremde und insbesondere geschlechtsdiskriminierende Faktoren analysieren. Transparente, nachvollziehbare Kriterien für Gehaltsunterschiede müssen dokumentiert werden, um kostspielige Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden.
Besonders wichtig wird es, bei Gehaltsverhandlungen darauf zu achten, dass diese nicht zu systematischen Benachteiligungen führen. Wenn Männer statistisch häufiger oder erfolgreicher verhandeln, kann dies zu struktureller Diskriminierung führen, auch wenn dies nicht beabsichtigt war.
Unternehmen sollten auch ihre Einstellungs- und Beförderungsprozesse überdenken. Standardisierte Verfahren und klare Kriterien können helfen, unbewusste Verzerrungen zu vermeiden.
5. Der Weg zur vollständigen Entgeltgerechtigkeit
Die beiden Urteile markieren wichtige Meilensteine auf dem Weg zur vollständigen Entgeltgerechtigkeit, aber sie sind nicht das Ende der Entwicklung. Sie zeigen vielmehr, wie die bestehenden Gesetze in der Praxis angewendet werden können und wo die Grenzen liegen.
Das BAG-Urteil ist ein wegweisendes Grundsatzurteil für klare Fälle direkter Benachteiligung. Es hat die rechtliche Landschaft verändert, indem es das häufige Argument des "besseren Verhandlungsgeschicks" entkräftet hat. Dies wird Auswirkungen auf unzählige ähnliche Fälle haben.
Das LAG-Urteil überträgt diese Grundsätze auf die komplexere Realität großer Unternehmen mit etablierten Gehaltsstrukturen. Es zeigt, dass das mittlere Gehalt, das durch das Entgelttransparenzgesetz in den Fokus gerückt wurde, eine starke rechtliche Waffe sein kann, um strukturelle Diskriminierung nachzuweisen. Gleichzeitig setzt es unrealistischen Forderungen Grenzen und verhindert, dass strukturelle Klagen automatisch zu den höchsten Gehältern führen.
6. Beide Entscheidungen senden ein klares Signal
Die Zeit, in der Gehaltsunterschiede zwischen den Geschlechtern einfach hingenommen oder mit oberflächlichen Begründungen gerechtfertigt werden konnten, ist vorbei. Arbeitgeber müssen sich aktiv mit dem Thema Entgeltgleichheit auseinandersetzen und können nicht mehr darauf vertrauen, dass sich niemand traut zu klagen.
Für die Zukunft ist zu erwarten, dass diese Urteile weitere Klagen ermutigen werden. Gleichzeitig dürften sie Arbeitgeber dazu bewegen, ihre Gehaltsstrukturen präventiv zu überprüfen und anzupassen.
Die Reise zur vollständigen Entgeltgerechtigkeit ist noch nicht beendet, aber diese Urteile markieren unumkehrbare Schritte in die richtige Richtung. Sie zeigen, dass die bestehenden Gesetze durchaus wirksam sein können, wenn sie konsequent angewendet werden. Letztendlich profitieren alle davon: Unternehmen erhalten rechtliche Klarheit und können Rechtsstreitigkeiten vermeiden, während Beschäftigte faire Behandlung erwarten können. Dies stärkt nicht nur die Gleichberechtigung, sondern auch das Vertrauen in unser Rechtssystem und die Gerechtigkeit am Arbeitsplatz.
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