Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 23.05.2012, Az.: IV ZR 250/11, eine jahrzehntelange Rechtsprechung zu den Voraussetzungen eines Pflichtteilsergänzungsanspruches gem. § 2325 Abs. 1 BGB aufgegeben. Als Pflichtteilsergänzungsanspruch im Sinne von § 2325 Abs. 1 BGB wird der Anspruch des Pflichtteilsberechtigten (Ehegatten und Abkömmlinge) auf Teilhabe an solchen Schenkungen des Erblassers bezeichnet, die dieser innerhalb von zehn Jahren vor seinem Sterbefall vorgenommen hat. Der Bundesgerichtshof hatte z. B. in Urteilen vom 21.06.1972 und 25.06.1997 entschieden, dass ein Pflichtteilsergänzungsanspruch grundsätzlich voraussetze, dass die Pflichtteilsberechtigung sowohl im Zeitpunkt des Erbfalles als auch schon zur Zeit der Schenkung bestanden haben muss, also in diesem Sinne eine Doppelberechtigung vorliegen müsse. Dieser Rechtsprechung lagen Fallgestaltungen zu Grunde, bei denen der Erblasser erneut geheiratet hatte und die neue Ehefrau nach seinem Tod Pflichtteilsergänzungsansprüche wegen vor der Heirat erfolgter Schenkungen etwa an die frühere Ehefrau oder seine Kinder geltend machte. Der Bundesgerichtshof hatte also bis zu der oben genannten, aktuellen Entscheidung derartige Pflichtteilsergänzungsansprüche der letzten Ehefrau wegen Schenkungen zu Zeiten einer früheren Ehe daran scheitern lassen, dass die grundsätzlich pflichtteilsberechtigte Ehefrau zum Zeitpunkt der damaligen Schenkungen zu Zeiten der ersten Ehe nicht pflichtteilsberechtigt war, weil sie noch nicht Ehefrau des Erblassers war.
In der aktuellen Entscheidung vom 23.05.2012 lag der Sachverhalt zu Grunde, wonach die 1976 und 1978 geborenen Kläger gegen ihre Großmutter Pflichtteilsergänzungsansprüche nach ihrem 2006 verstorbenen Großvater geltend machten. Wirtschaftlich ging es den Klägern im Wesentlichen um Schenkungen, die der Großvater der Beklagten vor Geburt der Kläger gemacht hatte. Diesen aktuellen Sachverhalt nahm der Bundesgerichtshof zum Anlass, eine seit jeher vom juristischen Schrifttum vehement angegriffene Rechtsprechung endlich aufzugeben. Der heute zuständige Senat des Bundesgerichtshofes macht in seltener Eindeutigkeit in seiner Entscheidung deutlich, dass die frühere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes im Sinne der geschilderten Doppelberechtigung keinerlei gesetzliche Grundlage habe, auch nicht in einer analogen Anwendung des § 2309 BGB, die in den früheren Entscheidungen herangezogen wurde. Vielmehr führe das angebliche Erfordernis einer Doppelberechtigung zu einer mit Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz nicht mehr zu vereinbarenden Ungleichbehandlung von Abkömmlingen. Hat der Erblasser mehrere Kinder und sind einige im Zeitpunkt vor der Schenkung sowie einige danach geboren, so würden Letztere hinsichtlich des Pflichtteilsergänzungsanspruches ungerechtfertigt ungleich behandelt. Dieses verstoße auch gegen den Grundsatz des § 1924 Abs. 4 BGB, wonach Kinder zu gleichen Teilen erben.
Fazit: Somit steht zukünftig Abkömmlingen und Ehegatten als Pflichtteilsberechtigte im Sinne des Gesetzes eine Teilhabe an pflichtteilsergänzungspflichtigen Schenkungen eines Erblassers auch dann zu, wenn sie zum Zeitpunkt der Schenkung noch nicht lebten bzw. noch nicht mit dem Erblasser verheiratet waren.