Das Bundesverfassungsgericht hat am 11. August 2009 ein Bußgeldurteil des Amtsgerichts Güstrow (vom 15.01.2007!) mit der Begründung aufgehoben, mit dem mit der Geschwindigkeitsmessung verbundenen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des betroffenen Kraftfahrers habe sich das Gericht im Urteil nicht ausreichend auseinandergesetzt. Eine Aufhebung des Urteils bedeutet in diesem Fall nicht Freispruch oder Einstellung des Verfahrens, sondern Zurückverweisung an das Amtsgericht mit weiterem Prüfungsauftrag.
Im Bußgeldverfahren ging es um eine Geschwindigkeitsüberschreitung, die mittels des Videomessverfahrens VKS festgestellt worden war. An sich handelt es sich bei diesem System um eine Abstandsmessanlage, die mit Videokameras bestückt ist, welche mobil auf Autobahnbrücken installiert werden. Das Gerät liefert aber auch Geschwindigkeitswerte, sodass hin und wieder auch der eine oder andere Zuschnellfahrer in das Netz der Fahnder gerät. Üblicherweise wird mit den Kameras der gesamte entgegenkommende Verkehr aufgezeichnet. Die Auswertung erfolgt anschließend softwareunterstützt am Rechner.
Was bemängelt nun das Bundesverfassungsgericht?
Es stellt in seiner Entscheidung zunächst klar, dass „in der vom Beschwerdeführer angefertigten Videoaufzeichnung ein Eingriff in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung liegt“. Das Mindestergebnis an dieser Stelle lautet also: Videoaufzeichnungen in Bußgeldverfahren berühren das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
Beachtlich ist aber die Erläuterung des Gerichts zur Frage, worin genau der Eingriff besteht. Stichworte sind hier „Aufzeichnung des gewonnenen Bildmaterials“, „beabsichtigte und technisch mögliche Identifizierung des Fahrers“ oder „Erkennbarkeit des Kennzeichens“. Diese Argumentation des Gerichts betrifft aber nicht nur Videoaufzeichnungen, sondern jegliches Anfertigen von Bildmaterial, also auch Messfotos an stationären Anlagen, Radarfotos oder Verfolgungsvideos aus entsprechend ausgerüsteten Polizeifahrzeugen.
Nun wird gerne in Zusammenhang mit dieser Entscheidung behauptet, das Kernproblem sei hier die anlassunabhängige Erfassung von Daten gewesen. Vom Betroffenen – aufgrund seiner Geschwindigkeit – selbst ausgelöste Messfotos oder Abstandsmessungen, die vom Polizisten aufgrund seiner vorherigen Beobachtung einer Abstandsunterschreitung durch Knopfdruck gestartet werden, seien anders zu beurteilen (so inzwischen auch das Sächsische Innenministerium). Das Bundesverfassungsgericht sieht es aber anders, denn es argumentiert ausdrücklich damit, dass kein Fall vorliegt, in dem Daten ungezielt und allein technikbedingt zunächst miterfasst, dann aber ohne weiteren Erkenntnisgewinn, anonym und spurenlos wieder gelöscht wurde, sodass aus diesem Grund die Eingriffsqualität verneint werden könnte, sondern dass die Aufzeichnungen gerade in einem Bußgeldverfahren gegen den betroffenen Kraftfahrer als Beweismittel genutzt werden sollten. Auch das trifft auf sämtliche fotografische Aufzeichnungssysteme zu, die für die Feststellung von Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr genutzt werden.
Welche Fragen hat das Bundesverfassungsgericht nicht beantwortet?
Zunächst die wichtigste Frage, ob die Anfertigung der Videoaufzeichnung nach keiner gesetzlichen Befugnis gestattet war und ob, wenn dies der Fall ist, daraus ein Beweisverwertungsverbot folgt. Mit dieser Aufgabe ist jetzt das Amtsgericht Güstrow neu befasst.
Gibt es eine gesetzliche Grundlage, die den Eingriff in das Grundrecht gestattet, wäre immer noch eine erneute Verurteilung möglich. Sicher werden die Verfassungsrichter Bundesrecht (bspw. die Strafprozessordnung oder das Ordnungswidrigkeitengesetz) beachtet haben. Das Amtsgericht wird daher nur noch das Landesrecht Mecklenburg-Vorpommerns zu durchkämmen haben. Jedenfalls stellen die im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht angeführten Verwaltungsvorschriften des Bundeslandes keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für den Grundrechtseingriff dar. Vermutlich gibt es in Mecklenburg-Vorpommern genauso wie in allen anderen Bundesländern keine gesetzliche Bestimmung, die dem hier gestellten Erfordernis genügt. Das wiederum würde in der Tat bedeuten, dass das Vorgehen der Behörde bei der Geschwindigkeitsmessung rechtswidrig gewesen ist. Die Juristen haben hierfür den Begriff des sogenannten Beweiserhebungsverbotes erfunden. Davon leider zu unterscheiden ist die Frage, ob trotz eines Beweiserhebungsverbotes gewonnene Daten auch einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Im ungünstigsten Fall könnte also im Falle des Güstrower Kraftfahrers das Amtsgericht zwar zu dem Ergebnis kommen, dass die Videoaufzeichnung mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nicht hätte vorgenommen werden, dass aber die Daten, die nun einmal vorliegen, dennoch verwendet werden dürfen. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht auch deutliche Worte zu möglichem willkürlichen Handeln von Behörden und Gerichten gewählt und angedeutet, dass nicht ausgeschlossen und zumindest möglich erscheine, dass die Fachgerichte einen Rechtsverstoß annehmen, der ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht.
Ausblick: Völlig offen ist derzeit die Frage, wie Bußgeldstellen und Gerichte mit dieser Entscheidung umgehen werden. Sicher dürfte nur eines sein: Man wird versuchen, auf jedem nur vertretbaren Weg die Verwertbarkeit von vorhandenen Beweismitteln zu erhalten. Dass dabei auch neue Auslegungsfehler und Justizirrtümer passieren, die sich in anschließenden Rechtsmittelverfahren nicht mehr reparieren lassen, halte ich nicht nur für ausgeschlossen, sondern sogar für wahrscheinlich. Mit genügend Beispielen aus Bußgeldverfahren mit anderen Themen kann ich aufwarten.