Pflichtverteidigung
Das Strafverfahren kennt keine Prozesskostenhilfe. Entgegen der landläufigen Meinung dient die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht dazu, einem mittellosen Angeklagten einen Verteidiger zu finanzieren. Sie ist grundsätzlich unabhängig von den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Angeklagten.
Im Hinblick auf das grundgesetzliche Rechtsstaatsprinzip wird dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beigeordnet, um ein rechtsstaatlich faires Verfahren, also eine strafprozessuale Waffengleichheit zu garantieren. Wenn alle anderen Verfahrensbeteiligten Juristen sind und sich mit der Materie auskennen, so soll der Angeklagte als juristischer Laie nicht allein dastehen. Dies gilt freilich nur für solche Verfahren, in denen zu vermuten ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. In Fällen der Klein- und Alltagskriminalität ist daher eine Pflichtverteidigung zumeist ausgeschlossen!
Ein Pflichtverteidiger wird nur in den Fällen der so genannten notwendigen Verteidigung bestellt. Liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, so muss ein Pflichtverteidiger bestellt werden, unabhängig davon, ob der Angeklagte sich eines Verteidigers bedienen möchte oder nicht. Gemäß § 140 StPO ist in folgenden Konstellationen ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben:
1. Hauptverhandlung vor dem Landgericht oder Oberlandesgericht
Die Mitwirkung eines Verteidigers ist immer dann notwendig, wenn die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Landgericht oder Oberlandesgericht stattfindet (§ 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO). Damit sind alle Angelegenheiten erfasst, welche die Sicherheit des Staates betreffen, weil hier nach § 120 GVG die Anklage zum Oberlandesgericht erfolgen soll, sodann alle Kapitalverbrechen, in denen das Landgericht als Schwurgericht zuständig ist.
Weiter umfasst die erstinstanzliche Zuständigkeit des Landgerichts Fälle, in denen mit einer Freiheitsstrafe von mehr als vier Jahren zu rechnen ist, oder in denen der Umfang des Verfahrens eine Anklageerhebung vor dem Landgericht gebietet. Die Fälle schwerer und schwerster Kriminalität gehören demnach bereits auf Grund dieser Vorschrift immer zu den Fällen notwendiger Verteidigung.
2. Verdacht auf ein Verbrechen
Die Mitwirkung eines Verteidigers ist nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO auch immer dann erforderlich, wenn dem Angeklagten ein Verbrechen zur Last gelegt wird. Der Begriff des "Verbrechens" nimmt hierbei auf die Definition in § 12 Abs. 1 StGB Bezug, demzufolge diejenigen rechtswidrigen Taten, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht sind, "Verbrechen" darstellen; im Gegensatz zu den Vergehen, die im Mindestmaß mit geringerer Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bedroht sind (§ 12 Abs. 2 StGB).
3. Drohendes Berufsverbot
Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt nach § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO weiter dann vor, wenn das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann. Die Voraussetzungen, unter denen das gegeben ist, sind in den §§ 70 ff. StGB geregelt.
4. Längerer Freiheitsentzug
Nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO liegt gleichfalls ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn der Angeklagte sich aufgrund einer richterlichen Anordnung oder Genehmigung wenigstens seit drei Monaten einer freiheitsentziehenden Behandlung unterziehen musste. Hier ist nicht nur die Untersuchungshaft als Freiheitsentzug gemeint (die den Regelfall für die Beiordnung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO darstellt), sondern auch Auslieferungshaft, Strafhaft und sonstiger - sei es auch rechtswidriger - Gewahrsam über drei Monate hinweg.
5. Unterbringung zur Gutachtenerstellung
Ebenfalls ist die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 Nr. 6 StPO notwendig, wenn der Beschuldigte zum Zwecke der Erstellung eines Gutachtens über seinen psychischen Zustand untergebracht werden soll.
6. Sicherungsverfahren
Derjenige, gegen den ein Sicherungsverfahren durchgeführt wird, bedarf gleichfalls eines Verteidigers (§ 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO). Ein Sicherungsverfahren wird dann durchgeführt, wenn der Angeklagte bei Begehung der Tat schuldunfähig im Sinne von § 20 StGB gewesen sein soll, aber eine isolierte Maßregel der Besserung und Sicherung verhängt werden muss, weil der Täter aufgrund seines Zustandes für die Allgemeinheit gefährlich ist.
7. Verteidigerausschluss
Unter bestimmten Umständen kann ein Wahlverteidiger von der Mitwirkung an der Hauptverhandlung ausgeschlossen werden. Hierfür bestimmt § 140 Abs. 1 Nr. 8 StPO, dass dann ein Fall der notwendigen Verteidigung eintritt, so dass, wenn kein anderer Wahlverteidiger auftritt, dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger bestellt werden muss.
8. Andere Fälle der notwendigen Verteidigung
Neben den Fällen des § 140 Abs. 1 StPO, in denen allein aufgrund eines bestimmten prozessualen Sachverhalts die Notwendigkeit der Verteidigung angeordnet wird, besteht notwendige Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO auch dann, wenn "wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint, oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann". Der Begriff der "Schwere der Tat" meint dabei die zu erwartende Sanktion. Wann die Schwere der Tat die Mitwirkung eines Verteidigers gebietet, wird regional unterschiedlich beurteilt, es dürfte jedoch Konsens bestehen, dass bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ein Verteidiger zu bestellen ist.
Schwierig ist die Sachlage z. B. dann, wenn der Beschuldigte sich deshalb nicht selbst verteidigen kann, weil er nicht schreiben und lesen kann oder die deutsche Sprache nicht versteht oder taubstumm ist.
9. Zeitpunkt der Beiordnung eines Verteidigers
Gemäß § 141 Abs. 1 und 2 StPO ist der Verteidiger spätestens dann zu bestellen, wenn der Angeschuldigte zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert wird, wenn ihm diese also zugestellt wird und das Zwischenverfahren beginnt. Ist das Gericht der Auffassung, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers für die Verhandlung notwendig sei, so schreibt das Gericht den Angeschuldigten/Angeklagten an und fordert ihn innerhalb von ein bis zu zwei Wochen auf, einen Rechtsanwalt seiner Wahl zu benennen, der bereit ist die Verteidigung zu übernehmen. Reagiert der Beschuldigte nicht auf ein Anschreiben des Gerichts, indem ihm die Beiordnung eines Verteidigers angekündigt wird, so ordnet der Vorsitzende des Gerichts einen Rechtsanwalt bei, den er selbst aussucht. Ergibt sich erst später, dass ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, ist der Pflichtverteidiger sofort zu bestellen.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft ist eine Verteidigerbestellung auch früher, also bereits im Ermittlungsverfahren möglich (§ 140 Abs. 3 StPO). Es handelt sich jedoch um eine Ermessensvorschrift. Die Beiordnung endet grundsätzlich erst mit Rechtskraft der Entscheidung.
10. Auswahl des Pflichtverteidigers
Es ist in § 142 StPO gesetzlich bestimmt, dass der beizuordnende Verteidiger durch den Vorsitzenden des Gerichts möglichst aus den im jeweiligen Gerichtsbezirk zugelassenen Anwälten auszuwählen und dem Angeklagten zuvor Gelegenheit zu geben ist, einen Anwalt seines Vertrauens vorzuschlagen, der auch zu bestellen ist, wenn nicht - wie es im Gesetz heißt - wichtige Gründe entgegen stehen.
Als solche wichtige Gründe kämen etwa die Weigerung des vorgeschlagenen Anwalts, die Verteidigung zu übernehmen, dessen Unerfahrenheit (ein Berufsanfänger soll die Verteidigung in einer schwierigen Wirtschaftsstrafsache übernehmen) oder auch ein gesetzliches Verbot in Betracht (der vorgeschlagene Anwalt verteidigt in der Strafsache bereits einen Mitangeklagten). Auch der bisherige Wahlverteidiger eines Angeklagten kann übrigens die Beiordnung unter Niederlegung seines Wahlmandats beantragen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn dem Mandanten im Laufe des Prozesses die Mittel ausgehen, seinen bisherigen Wahlverteidiger weiter zu bezahlen.
11. Der Anwalt des Vertrauens
Der Angeklagte hat im übrigen grundsätzlichen Anspruch darauf, dass ihm der von ihm vorgeschlagene Anwalt seines Vertrauens beigeordnet wird. Es reicht, wenn er einen bestimmten Rechtsanwalt mit der Bitte benennt, ihm diesen beizuordnen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 31.07.1995, Az.: 3 Ws 410/95).
Heftiger Streit entsteht häufig dann, wenn der Angeklagte um Beiordnung eines Verteidigers bittet, der seinen Kanzleisitz nicht im betreffenden Gerichtsbezirk hat. Die Gründe hierfür liegen im rein fiskalischen Bereich, weil die Staatskasse sich im Falle eines ortsansässigen Verteidigers die Erstattung von Reisekosten erspart. Die Beiordnung eines Verteidigers unter Beschränkung auf die Vergütung eines ortsansässigen Anwalts ist jedoch grundsätzlich unzulässig. Der auswärtige Verteidiger hat neben seiner Vergütung Anspruch auf Erstattung seiner Reisekosten.
Folgende Kriterien werden nach der derzeitigen Rechtsprechung wesentlich bei der Frage sein, ob ein Angeklagter Anspruch auf die Beiordnung eines auswärtigen Verteidigers hat:
Gegenstand des Strafverfahrens (je bedeutender der Tatvorwurf oder je umfänglicher das Strafverfahren ist, um so mehr gilt das Recht, durch den auch entfernt sitzenden Anwalt des Vertrauens verteidigt zu werden).
Grad des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Angeklagten und dem von ihm gewünschten Verteidiger (Verteidigung durch diesen Anwalt schon in früheren Strafverfahren? Besondere bereits erfolgte Einarbeitung des gewünschten Verteidigers in den Prozessgegenstand?).
Entfernung zwischen Gericht und Kanzlei des gewünschten Anwalts (je bedeutender der Tatvorwurf und je gefestigter das Vertrauensverhältnis, um so weiter darf der beizuordnende Verteidiger des Vertrauens vom Gericht entfernt sein).
12. Vergütung des Pflichtverteidigers
Die Pflichtverteidigergebühren sind niedriger als diejenigen, die der Verteidiger als Wahlverteidiger hätte beanspruchen können.
In Fällen, in denen der Verteidiger nachweisen kann, dass der Angeklagte wirtschaftlich in der Lage ist, auch Wahlverteidigergebühren zu bezahlen, kann das Gericht nach § 52 Abs. 3 u. 4 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz feststellen, dass der Angeklagte zur Bezahlung von Wahlverteidigergebühren in der Lage und verpflichtet ist. Werden die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise der Staatskasse auferlegt (Freispruch oder Teilfreispruch), ist der Pflichtverteidiger berechtigt, in dieser Höhe gegenüber der Staatskasse Wahlverteidigergebühren abzurechnen.
Der Pflichtverteidiger rechnet seine Gebühren und Auslagen gegenüber der Staatskasse ab.
Die Staatskasse zahlt zunächst die Gebühren und Auslagen des Pflichtverteidigers. Sie werden aber später - im Falle einer Verurteilung des Angeklagten - mit der Rechnung über die Gerichtskosten von diesem zurückverlangt. Mit der Beiordnung wird dem Angeklagten also kein Anwalt gesponsort, sondern lediglich kreditiert.
Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Dann teilen Sie ihn doch mit anderen: